In der Universitätsklinik für Alterspsychiatrie ist künstliche Intelligenz im Einsatz. Chefarzt Prof. Dr. med. Stefan Klöppel erklärt, wie Algorithmen Diagnosen stützen und wie Sensoren in Betten und Roboter-Plüschtiere die Lebensqualität von Patient:innen verbessern.
Prof. Klöppel, Sie nutzen in der klinischen Praxis bereits seit einigen Jahren Künstliche Intelligenz. Entscheidet heute ein Algorithmus darüber, ob man krank oder gesund ist?
Stefan Klöppel: Unter Künstlicher Intelligenz (KI) stellt man sich oft eine Intelligenz wie diejenige eines Menschen vor. In Wirklichkeit geht es aber vielmehr um Big Data. Eine Software lernt mit Algorithmen aus vorhandenen Datenmengen und lässt so hilfreiche Schlussfolgerungen über den Zustand einer Patientin bzw. eines Patienten zu. Diagnosen sind nur ein Aspekt von vielen, diese werden aber immer noch von Mitarbeitenden gestellt.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Selbstlernende Techniken kommen unter anderem in der Diagnostik von Demenzen zum Einsatz. Das war mein früheres Anwendungsgebiet. Bei Gehirnscans im Kernspintomografen konnten wir schon vor Beginn der Erkrankung typische Symptome erkennen, also dann, wenn ein demenztypisches Muster auftrat. Oder die Huntington-Krankheit. Dies, weil der Algorithmus aus einer Vielzahl früherer MRT-Aufnahmen gelernt hatte, für die Erkrankung typische Muster zu erkennen.
Sie wurden für Innovation in der Alterspsychiatrie mit dem Wertheimer-Preis ausgezeichnet. Worum ging es bei der Ehrung?
Den Wertheimer-Preis erhielten wir für eine Arbeit, in der es um die Frage ging, ob sich Depressionen von demenziellen Entwicklungen unterscheiden lassen. Die Fragestellung hat einen hohen klinischen Stellenwert. Gerade ältere Menschen mit einer Depression weisen meist auch kognitive Defizite auf. Wenn man dauernd grübelt und sich Sorgen um die Zukunft macht, kann man sich in Gesprächen schlechter konzentrieren. Mithilfe von Lernalgorithmen können wir solche Unterscheidungen leichter treffen.
Was ist die grösste Veränderung für einen Menschen, wenn immer klarer wird, dass die Endlichkeit des Lebens näher rückt?
Das Erschrecken, keine Zukunft mehr zu haben. Bis dahin leben wir mehr im Morgen als im Heute. Jetzt, wo die Zukunft schrumpft, gewinne ich die den Vorteil, mich intensiver an den Augenblick zu verschwenden.
Die Angst vor Demenz ist generell gross.
Ja, ich sehe Patientinnen und Patienten, die überzeugt davon sind, dement zu sein, weil sie sich tags zuvor im Keller nicht mehr daran erinnern konnten, was sie dort suchten. Einige steigern sich richtiggehend in diese Vorstellung hinein. Der Demenzdiagnostik kommt hier eine grosse Bedeutung zu. Lassen sich die Gedächtnisschwierigkeiten auf eine Depression zurückführen, stehen viel mehr therapeutische Möglichkeiten zur Verfügung als bei einer Demenz. Es ist sehr erleichternd, jemandem sagen zu können, er oder sie habe keine Demenz.
Nun behandeln und pflegen Sie in der Uniklinik auch Menschen mit Demenz. Sie lassen sich dabei von einem digitalen Pflegeassistenten unterstützen. Was kann er?
Beim digitalen Pflegeassistenten handelt es sich um ein jetzt anlaufendes Forschungsprojekt zur Sensortechnik, das wir zusammen mit Ingenieuren vom ARTORG Center in Bern leiten. Ein Patientenzimmer wird mit verschiedenen berührungsfreien Sensoren ausgestattet. Diese überwachen die Patient:innen. Die so entstehenden Daten werden wiederum von einem lernenden System interpretiert und an den Pflegestützpunkt gesendet.
Wie muss ich mir das konkret vorstellen?
Sensoren im Bett registrieren zum Beispiel, wenn die Person aufsteht. Im Zimmer geht dann automatisch das Licht an, um die Sturzgefahr zu reduzieren. Stürze sind leider ein häufiges Problem, besonders wenn sich die betroffene Person in einem Delir befindet. Radarsensoren im Raum wiederum zeigen, wo und wie sich eine Person bewegt. Im Pflegestützpunkt sieht man eine Art Ampelsystem. Steht es auf Grün, ist es etwas weniger dringend, auf der Runde bei der Patientin bzw. beim Patienten vorbeizuschauen. Eine Kontrolle würde nur den Schlaf stören.
Ist es nicht riskant, sich so sehr auf die Maschine zu verlassen?
Wir verwenden diese Sensortechnik erst in einer Forschungsstudie, sie wird noch nicht in der Routine eingesetzt. Sie wurde zwar bereits in der NeuroTec-Loft getestet. Die Teams aber werden instruiert, dass die Datenqualität noch nicht ausreichend ist und sie sich nicht auf das System verlassen dürfen. Stellen Sie sich vor, die Ampel bleibt auf Grün stehen, weil der Sensor zu Boden gefallen ist!
Wäre eine Videoüberwachung nicht einfacher?
Eine Videoüberwachung erachten wir als zu invasiv. Ebenso eine Sensortechnik, die den Alltag behindert. Wir befinden uns in regem Austausch mit Ethikern, um die Grenzen solcher Systeme auszuloten. Von einem Forschungsaufenthalt in den USA weiss ich, dass die dortigen psychiatrischen Stationen und die Patientenzimmer alle mit Video ausgestattet sind. Dies hat auch mit einer allgemeinen Haltung und Gewöhnung zu tun. Es ist mir aber ein Anliegen, die hiesigen ethischen Aspekte zu berücksichtigen. Hierfür suche ich auch das Gespräch mit Betroffenen und mit gesunden älteren Menschen.
Wie steht es um die Akzeptanz solcher Systeme?
Die Pflege steht den neuen Techniken sehr offen gegenüber. In unserer Klinik ist auch die Paro-Robbe im Einsatz. PARO steht für Personal Assistant Roboter. Die Plüschrobbe reagiert auf Berührungen und Geräusche und wirkt so auf die Patient:innen mal beruhigend, mal aktivierend. Oft ist sie der einzige Zugang zu zurückgezogenen Menschen. Als sie vor rund zehn Jahren eingeführt wurde, gab es viele Diskussionen, ob es ethisch richtig sei, den älteren Menschen vorzugaukeln, sie sei eine echte Robbe. Denn viele unserer Patient:innen verstehen nicht, dass es sich um einen Roboter handelt.
Wie fiel das Ergebnis der Diskussion aus?
Sie ist mittlerweile abgeflaut, weil es so viele Studiendaten gibt, die zeigen, dass die Paro-Robbe die Lebensqualität verbessert. Sie baut zum Beispiel Stress ab. Heute geht es nicht mehr um die Frage: Robbe oder Mensch? Es braucht beides. Viele Patient:innen lieben die Robbe, benötigen aber Begleitung bei der Nutzung. So erzeugt sie viel Freude. Selbst einige Mitarbeitende würden sie am liebsten mit nach Hause nehmen.
Dann sind Roboter und Künstliche Intelligenzen also kaum noch aus der Alterspsychiatrie wegdenken.
Ich denke, dass lernende Systeme in sehr vielen Bereichen Einzug halten werden. Also, Systeme, die aus Erfahrungen lernen, nicht eigenständige Intelligenzen. Bei uns in der Klinik wird KI in mehreren Projekten erforscht.
In welchen?
In einem Projekt verbessern wir den Tiefschlaf, indem ein Algorithmus Hirnströme erkennt und je nach Schlafphase schlaffördernde akustische Signale abgibt. Daten zeigen, dass Tiefschlaf die Gedächtniskonsolidierung fördert. In einem anderen Projekt erkennt der Algorithmus die Aktivität des Hippocampus. Bei einer Alzheimer-Erkrankung ist zu viel Hippocam- pus-Aktivität kontraproduktiv. Die Patient:innen lernen dank der KI, die Aktivität zu steuern. Auch zur Förderung der Gedächtnisleistung mit Computer- spielen laufen Studien.
Bald braucht es keine Menschen mehr. Spart KI Geld?
Nein, überhaupt nicht. Den Nutzen von KI sehe ich vor allem darin, den Alltag unserer Patient:innen zu erleichtern und dem Personal neue Hilfsmittel an die Hand zu geben. Wo aber schon noch Potenzial besteht, ist in der Optimierung der Prozesse und Abläufe auf der Station. Unsere Station ist sehr lang. An einem normalen Arbeitstag, so hat eine Kollegin kürzlich gemessen, legt sie fünf Kilometer zu Fuss zurück. Da könnte eine KI durch Berechnung von effizienten Wegen schon etwas bewirken. Wir sind ja kein Fitnessstudio.
Autorin: Tanya Karrer. Erstpublikation erschienen in BrainMag 2023; 1: 8-10. Zweitabdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags, ©medEdition Verlag GmbH. Foto-Quelle: freepik
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